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„Von der Lebensfeinheit und Ästhetik einmal abgesehen, gibt es in Restaurants allerdings keinen triftigen Grund mehr, von der Zusammenballung seines Mantels auf einem unbesetzten Nachbarstuhl abzusehen. Sitzt man heute zu zweit oder allein an einem Tisch, besteht kaum noch die Gefahr, daß ein Fremder mit der Frage in Erscheinung tritt, ob er sich dazusetzen könne, da sonst nichts mehr frei sei. Ein Einzelner, der sich in einer Gastwirtschaft zu einem Paar auf einen freien Stuhl setzt, ist sogar völlig undenkbar; man würde ihn für einen irren oder rabiat undezenten Menschen halten. Experten der westlichen Seele berichten, daß kaum eine Phobie in den letzten Jahren so heftig an Zuspruch gewonnen hat wie die Angst davor, mit unbekannten Menschen an einem Tisch essen zu müssen, ja überhaupt vor dem Essen in der Öffentlichkeit. Es ist die Furcht davor, durch die Unfähigkeit zu oberflächlicher Plauderei aufzufallen, die Angst vor der Unruhe des eigenen Blicks in die Augen des Fremden, vor dem Zittern der speisenführenden Hand. Die neulich von der Statistik in die Gegend gestellte beunruhigende und befremdliche Zahlentatsache, daß der durchschnittliche Deutsche im Jahr 90 Tiefkühlpizzas verzehre, gründet vermutlich nicht nur in der dröhnend werbenden Nährmittelindustrie und im allgemeinen Zugrundegang des Geschmacksinns, sondern auch in der weitverbreiteten Unfähigkeit, außerhalb des Blickfelds von Menschen des unmittelbar eigenen sozialen Feldes Nahrung aufzunehmen.“ Max Goldt, TITANIC 04/2005