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adorno
minima moralia
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Heideknabe. - Was man ohne realen Grund, scheinbar von fixen Ideen besessen, am meisten
fürchtet, hat den schnöden Hang, Ereignis zu werden. Die Frage, die man um keinen Preis
hören möchte, bringt ein Subalterner mit perfid freundlicher Teilnahme vor; die Person, von
der man die Geliebte am ängstlichsten fernzuhalten wünscht, wird diese, und wäre es über
dreitausend Meilen Entfernung, dank wohlmeinender Empfehlungen gewiß einladen und jene
Art von Bekanntschaften herbeiführen, von denen die Gefahr droht. Es steht dahin, wieweit
man selber solche Schrecken fördert; ob man etwa jene Frage durchs allzu eifrige
Verschweigen dem Hämischen auf die Zunge legt; ob man den fatalen Kontakt provoziert,
indem man in albern destruktivem Vertrauen den Vermittler bittet, nicht vermitteln zu wollen.
Psychologie weiß, daß, wer das Unheil sich ausmalt, es irgend auch will. Wieso aber kommt
es so eifrig ihm entgegen? Auf die paranoide Phantasie spricht etwas in der Realität an, die
von jener verbogen wird. Der latente Sadismus aller errät untrüglich die latente Schwäche
aller. Und die Verfolgungsphantasie steckt an: wann immer sie begegnet, sind Zuschauer
unwiderstehlich dazu getrieben, sie nachzuahmen. Das gelingt am leichtesten, wenn man ihr
zum Recht verhilft, indem man das vom anderen Gefürchtete tut. »Ein Narr macht viele« - die
abgründige Einsamkeit des Wahns hat eine Tendenz zur Kollektivierung, die das Wahnbild
ins Leben zitiert. [...]
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