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Fingerübung Sie trat die Zigarette aus, kramte aber im selben Atemzug bereits eine neue aus ihren großen Taschen. Während die Flamme des Feuerzeugs einen kurzen Lichtschein auf ihr blasses Gesicht warf, beobachtete sie weiterhin aufmerksam ihre Umgebung. Menschenmassen eilten aus beiden Richtungen an ihr vorbei. Ein ganz normaler Freitagnachmittag mit all seiner Hektik und Geschäftigkeit. Das Rauchen beruhigte ihre Nerven, gab ihr einen scheinbaren Halt im haltlosen Gewühl. Sie sah sich die Menschen, die wie Wolkenfetzen an ihr vorbeizogen, so genau wie möglich an. Hier und da erspähte sie ein Lächeln, doch der Großteil huschte mit angespannter Miene und auf den Boden vor den Füßen geheftetem Blick wohin auch immer. Sie sammelte sich, schnippte die Kippe zur Seite und stürzte sich in die Hauptschlagader des Menschenstromes. Die ersten Meter verliefen problemlos, sie hatte extra eine ausreichend große Lücke abgewartet. Sie atmete kontrolliert tief ein und aus, ging zügig aber nicht hastig. Trotzdem fühlte sich ihr Brustkorb zunehmend enger an und ihre Füße schienen mit jedem Schritt schwerer zu werden. Die erste Welle kalten Schweisses trat aus ihren Poren. Langsam krochen Angst, Ekel und Wut in ihr hoch, verwoben sich ineinander und krallten sich an ihren Geist. Jetzt konnte sie schon den Kaffeestand vor sich sehen, den sie immer ansteuerte, wenn sie hier war. Nicht, weil sie ihre Koffeinsucht nicht im Griff hatte, sondern weil er ihr wie eine Oase in dieser Treibsandwüste aus Menschen erschien. Noch zehn Meter, noch acht, noch sechs... wägte sie die Entfernung ab und hoffte, dass es nicht schlimmer werden würde. Zuerst wurde die Haut heiss und kalt. Anschliessend zog sich ein Schaudern vom Steiß bis zum Nacken aufwärts bis dann schlagartig der zweite Schub kalte Tropfen auf ihrem Körper hinterliess. Sie spürte, wie ihre Kleidung begann sich an sie zu kleben. Noch vier, noch zwei.....sie stolperte in die kleine Lücke zwischen Abfalleimern und Kaffeestand. Ihr Atem ging stoßweise und sie erschauerte erneut. Es stank so aufdringlich nach Mensch, dass ihr schlecht wurde. Sie drückte ihre Stirn an das Metallgeländer und konzentrierte sich auf den kalten Stahl. Was war nur los mit ihr? Gut, sie hatte Menschenmengen immer als unangenehm empfunden, legte großen Wert darauf, dass kein Fremder in ihren Bereich eindrang und sie berührte, aber die plötzliche Potenzierung dieser Eigenart erschrak sie zunehmend. Sie kauerte sich auf den Boden und vergrub das Gesicht in ihren kalten, klammen Händen. Das Stimmengewirr drang dumpf an ihre Ohren; messerscharf in ihren Verstand. Sie litt körperliche, geistige und seelische Schmerzen mitten zwischen Tausenden ihrer Art. Ihrer Art? Ekel überschwemmte ihre chaotischen und unvollständigen Gedankengänge. Sie hatte in vertrauter, beschützter Atmosphäre sämtliche Sicherheitsmaßnahmen ohne zögern oder zweifeln demontiert. Das Bemühen, ihre komplizierte Schutzmauer vor der Aussenwelt adhoc wieder aufzubauen war zweck-aber vor allem ergebnislos. Sie konnte nur nutzen, was vorhanden war und sie musste sich die Zeit nehmen, die dazu nötig war. Vielleicht würde ihr die Wut von Nutzen sein. Hinter geschlossenen Lidern griff sie nach ihrem Emotionsnetz, löste vorsichtig die violetten Stränge heraus und zog sie zwischen den Fingern auseinander wie Kaugummi. Ein Zittern durchlief sie sowohl von innen als auch von aussen. Hektisch verknüpfte sie die einzeln so verloren wirkenden Lichtsehnen locker miteinander und wie befürchtet lösten sich die Knoten sofort wieder. Sie versuchte es erneut und liess sich diesmal mehr Zeit. Nach einer gefühlten Ewigkeit glitt das zerbrechliche Ergebnis durch ihre Hände. Vorsichtig stülpte sie es über die Oberfläche ihrer gesamten Emotionen und spürte sofort das schwache Lodern in ihrem Leib. Als sie aus sich selbst wieder auftauchte, fühlte sie sich geringfügig besser. Einige Momente vergingen, bevor sie aufstand, ihren Rucksack zurechtrückte und sich in die Schlange derer einreihte, die der Geruch von frisch gerösteten Kaffeebohnen angelockt hatte. Hinter ihr drängelte sich eine Horde quengelnder Schulkinder, die sich wohl für ihre erste Klassenfahrt mit Kaltgetränken und Kuchen ausstatten wollten. Sie warf einen gereizten Blick über die Schulter, der ihr in etwa 20 cm mehr Luft hinter sich verschaffte. Nachdem sie ihren großen Kaffee bezahlt hatte, ging sie betont lässig weiter und zwang sich den entgegenkommenden Menschen in die Augen zu sehn. Man wich ihr umgehend aus, wie sie zufrieden feststellte. Wohlfühlen würde sie sich niemals in dieser Umgebung, aber der Angst würde sie nicht die Führung überlassen. Das widersprach einfach ihrer Natur.