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[b]Macht im Matriarchat[/b]
Die Begriffe "Macht" und "Herrschaft" bringt Diskutierende immer wieder dazu, ins Schwimmen zu kommen, weil unter "Macht" viel Verschiedenes und Diffuses verstanden wird. Oft verbindet sich mit der Vorstellung von "Macht" ein negatives Gefühl, das sich aber eigentlich nur auf den Missbrauch von Macht bezieht.
Was aber ist Macht, wenn sie nicht missbraucht wird? Ist sie dann etwas Positives, und löst sie in uns andere Gefühle aus?
Hier zeigt sich bereits eine Ambivalenz im Begriff "Macht", die geklärt werden muss.
Deswegen möchte ich den Begriff "Macht" durch zwei andere ersetzen, die genauer sind und die Ambivalenz auflösen. Einerseits kann "Macht" nämlich soviel wie "Herrschaft" bedeuten, andererseits kann "Macht" so etwas meinen wie "natürliche Autorität! Stärke! Würde haben". Das fällt keineswegs zusammen, obwohl wir uns seit der Antiautoritäts-Diskussion angewöhnt haben, beides fälschlicherweise in einen Topf zu werfen.
So ist in den letzten Jahren leider untergegangen, dass "natürliche Autorität" (nicht angemaßte Autorität) etwas anderes ist als "Herrschaft".
Ich möchte diese Begriffe wieder trennen, denn sie bedeuten keineswegs dasselbe. Was also ist "Herrschaft", und was ist "natürliche Autorität"? Beides sind ja Machtstrukturen.
[b]Herrschaft [/b]
Herschaft ist eine geschichtlich relativ späte Erfindung und typisch mit der Entstehung des Patriarchats verknüpft.
Die Struktur von Herrschaft wurde von Christian Sigrist klar definiert als die Verbindung von
Befehlen auf der einen Seite und
Gehorchen auf der anderen Seite.
Die befehlende Person erreicht Gehorsam auf der anderen Seite nicht auf der Basis von Freiwilligkeit, sondern durch Zwang. Damit sie Gehorsam erzwingen kann, braucht sie einen Erzwingungsstab, nämlich Leute, die ihre Befehle mit Gewalt bei anderen gegen deren Willen durchsetzen.
Erzwingungsstäbe sind zum Beispiel Krieger, Polizei, Militär, Justiz, Gefängnisse, Steuerbehörden, Ämter und so weiter. Mit Gewalt ist dabei nicht nur diejenige gemeint, die über Faust, Speer, Schwert und Gewehr durchgesetzt wird (direkte Gewalt), sondern auch die verdeckte und legalisierte Gewalt, die Menschen - insbesondere Frauen - dazu zwingt, Dinge zu tun, die sie eigentlich nicht tun wollen (strukturelle Gewalt).
Das alles gehört zum Erzwingungsstab,
und die Existenz eines solchen Erzwingungsstabes ist das Kriterium für Herrschaft.
Denn durch einen Erzwingungsstab kann ein Mensch oder eine Gruppe anderen den eigenen Willen aufzwingen, das heißt, sie beherrschen.
[b]Natürliche Autorität[/b]
Natürliche Autorität gründet sich nicht auf einen Erzwingungsstab.
Wir sagen oft, eine erfahrene alte Frau oder ein erfahrener alter Mann hat in der Familie eine gewisse Autorität, sie haben dort aber keinen Erzwingungsstab. Auch die Sippenmütter in matriarchalen Gesellschaften besaßen natürliche Autorität, aber sie hatten keine Polizei an ihrer Seite, keine Krieger, die das durchsetzten, was sie meinten.
Natürliche Autorität ist die Verbindung
des Ratgebens auf der einen Seite und
des freiwilligen Akzeptierens dieses Rates auf der anderen Seite.
Da sie auf Freiwilligkeit beruht, kann das Befolgen des Rates auch unterlassen werden. Das ergibt eine ganz andere Gesellschaftsstruktur, die nach anderen Regeln organisiert ist als der von Herrschaft durchzogene Staat.
Nach den ethnologischen Berichten über Matriarchate werden diese Ratschläge in der Regel angenommen.
Die Sippenmütter matrilinearer Sippen oder Clans genießen bei den Sippenmitgliedern so großes Vertrauen, dass die Akzeptanz sehr hoch ist, wenn sie Rat geben.
Warum ist das so?
Erstens ist eine Sippenmutter die älteste Frau der Sippe und die (Groß)Mutter aller anwesenden Töchter, Söhne, Enkelinnen und Enkel. Diese nehmen nicht an, dass die Frau, die sie geboren und gepflegt hat, etwas gegen sie tut - hier spielt das familiäre Band eine große Rolle.
Im familiären Rahmen muss, anders als bei Gruppen aus einander fremden Personen, Vertrauen nicht erst hergestellt werden.
Das ist ein wichtiger Punkt, denn Matriarchate sind in der Regel Verwandtschaftsgesellschaften, das heißt, sie sind ausschließlich nach Verwandtschaftslinien organisiert. Alle Menschen sind im Gefüge des Stammes miteinander verwandt, wissen es auch und pflegen diese Beziehungen. Das Verwandtschaftsband, das Vertrauen herstellt, durchzieht den ganzen Stamm.
Damit habe ich das erste Kriterium genannt, auf dem die natürliche Autorität beruht, nämlich auf Vertrauen. Wenn dieses fehlt, funktioniert natürliche Autorität nicht.
Das zweite Kriterium ist Kompetenz. Sie beruht auf den Kenntnissen, über die erfahrene ältere Frauen (und Männer) in einer matriarchalen Gemeinschaft verfügen und die jüngere Mitglieder der Sippe noch nicht haben können: Erfahrung über Lebensprozesse, über soziale und natürliche Zusammenhänge, Wissen von speziellen Künsten und Techniken und so weiter. Daraus entsteht Kompetenz, die zum Schutz und als Orientierungshilfe für die jüngeren Mitglieder der Gemeinschaft so wichtig ist, ohne die sie nicht überleben könnten.
Wir finden in matriarchalen Gesellschaften daher immer Achtung und Respekt vor den älteren Menschen.
Das dritte Kriterium ist Integrationsfähigkeit. Denn was ruft Vertrauen hervor, und worin beweist sich der Besitz von Erfahrung?
Es ist die Gabe, Probleme lösen zu können, Verhandlungen zu führen, bei denen alle zu ihrem Recht kommen, verschiedene Menschen an ihrem richtigen Ort einzusetzen und sie dort zur Weiterentwicklung zu führen, kurz: die Fähigkeit des Integrierens.
Durch diese drei Kriterien lässt sich "natürliche Autorität" definieren, und sie zeigt sich dabei auch als eine Macht - aber nicht als eine Macht durch Zwang, sondern als eine Macht durch Einsicht. Bei Gesellschaften mit natürlicher Autorität laufen Entscheidungsfindungsprozesse anders ab als bei Herrschaftsgesellschaften. Bei letzteren fällt eine Person oder eine Gruppe allein eine Entscheidung und zwingt sie durch ihren Erzwingungsstab den anderen Menschen auf. Bei Gesellschaften mit natürlicher Autorität werden alle in den Entscheidungsfindungsprozess einbezogen.
Ein Beispiel finden wir in der matriarchalen Gesellschaft der Minangkabau auf Sumatra. Eine Sippenälteste erzählte, wie die Entscheidung in ihrem Sippenhaus zustande kommt:
Zuerst besprechen sich die Frauen und Männer in getrennten Gruppen zu einem bestimmten Problem, und sie hören erst auf, miteinander zu reden, wenn sie untereinander einig sind, also einen Konsens gefunden haben. Dann begegnen sich die beiden Gruppen und diskutieren miteinander weiter, und zwar so lange, bis sie wiederum Einigkeit erreicht haben. Sollten sie nicht zur Einigung kommen, dann - erst dann, sagte die Sippenälteste und lächelte - fälle sie selbst die endgültige Entscheidung als das Zünglein an der Waage. Auf dem Boden ihrer natürlichen Autorität wird das akzeptiert, aber nicht als ihre einsame Entscheidung, sondern als Abschluss eines Entscheidungsprozesses, an dem alle Sippenmitglieder teilgenommen haben.
Ähnlich wie im Sippenhaus verläuft die Entscheidungsfindung im Stamm. Frauen und Männer diskutieren getrennt die Angelegenheit untereinander, dann werden die Ergebnisse vom Stammesrat koordiniert, und die Sache wird per Konsens der ganzen Gesellschaft entschieden.
Ein Krisenbeispiel dazu stammt aus der matriarchalen Irokesen-Gesellschaft:
Dort wurden sich Frauen und Männer einmal nicht einig, ob eine Fehde - die die jungen Männer führen wollten - nun geführt werden müsse oder nicht. Die Angelegenheit wurde von allen Sippenmüttern im Stamm so entschieden, dass die Fehde nicht geführt werden sollte. Sie verliehen ihrer Entscheidung Nachdruck, indem sie den jungen Kriegern, die die Fehde führen wollten, die Lebensmittel für diese Fehde sperrten. Das ist eine Sanktion, allerdings durchgeführt ohne Erzwingungsstab. Denn die Männer hätten jetzt ihre Waffen nehmen und mit Gewalt die Lebensmittel von den Frauen rauben können. Dazu kam es aber nicht, sie akzeptierten die Entscheidung der ältesten Frauen.
Spitzt sich eine derartige Krise noch mehr zu, kann es zu einer Sezession kommen, zum Auszug eines Teils des Stammes, der sich dann neue Wohnung sucht.
Das ist ein extremer Fall, aber noch immer spiegelt er,
dass keine Herrschaft ausgeübt wird.
Denn in einem Herrschaftsstaat wird ein solches Problem anders gelöst: Sezessionen werden verhindert durch militärische Niederwerfung und Unterdrückung der rebellierenden Bevölkerung, die dann zum Bleiben gezwungen wird.
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Quelle: [i]Heide Göttner-Abendroth[/i]
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